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Marietta Franke

Katalog: Stephan Reusse 1996
Dialogische Öffnungsprozesse
Köln 1996

mein Frühling wächst
aus diesem Winter
Herr
mir tropft der Mohn aus Krügen
schwarz
die längst zu Asche sind
Thomas Bernhard, In hora mortis (1958)

 

Die spezifische Qualität der fotografischen Arbeit von Stephan Reusse erwächst aus dialogischen Öffnungsprozessen.

Ihre Energie beziehen sie aus dem klärenden Hintersichlassen diffuser Form- und Gedankengebilde (Einfälle), um in einem reflektierten Bildwerdungsprozeß formale und inhaltliche Erwägungen der Fotografie in einen Konzentrationsausgleich zu bringen. Reusse nutzt für den Bildwerdungsprozeß wissenschaftlich verwertbare Verfahren wie z.B. die in der Medizin angewandte Thermografie, ein Verfahren zur Abbildung von Körpern/Objekten mittels ihrer Wärmestrahlung über einen infrarotempfindlichen Sensor zur direkten Betrachtung auf einem Monitor und zur Aufnahme von Wärmebildern. Parallel dazu unterzieht er sich wie bei seinen Fotokeramiken auch dem alchemistischen Laborieren, das ihn zum Geheimnisträger werden läßt.

Das thermografische Verfahren ermöglicht das Fotografieren von Restbildern in einem leeren Raum, dem Wärmeschatten einer Person, die sich noch kurz zuvor im Raum aufgehalten hat. Man kann nicht immer distinkte Formen erkennen. Während Reusses Thermografien eines von Körperwärme durchstrahlten Bettlakens die spezifischen Körperformen wiedergeben, öffnen seine Thermografien zusammengekauerter Körper den Blick für die Mehrdeutigkeit eines durch Erkalten in der Zeit abstrakt gewordenen Bildes. Diese als „Atem“ oder „Embryo“ betitelten Arbeiten können evolutive (ontogenetische und phylogenetische) Konnotationen entfalten.

Arbeiten wie die „Cold Boxes“ (1989/96) entstehen nicht aus einem den Objekten/Bildern Nachgehen, sondern Reusse inszeniert sie als Fotografien des Vergangenen. Sie verdanken die Klarheit ihrer Form dem Temperaturgefälle von Objekt und Raum. Sie sind jedoch nicht der „einförmigen Fotografie“1 zuzurechnen, weil sie von der Interaktion empirischer und visionärer Wahrnehmung leben.

Wie Christoph Blase in einem Text hervorgehoben hat, bestätigt der für die Thermografien verwendete Titel „Thermovision“, daß es sich um „reale Thermogramme von Gegenständen“ handelt. Für ihn sind die Thermografien „eigentliche keine Fotos mehr“, weil sie nicht die „optische Erscheinung eines Gegenstandes“ zeigen.2 Um sich jedoch ihrem visionären Rest zu nähern, reicht es nicht aus, gebunden an das allmähliche Erkalten und damit Verschwinden des Gegenstandes ein „surreales Moment“ zu konzidieren. Weiterführend schreibt Klaus Honnef von der magischen Dimension der „Thermovisionen“, die die Fotografie als Zeugnis eines „Anwesenseins von etwas Abwesendem“3 mit einer ihr spezifischen Qualität belegt. Diese Qualität trennt die Thermografie nicht unbedingt von der Fotografie, sondern sie spricht vielmehr von der Fotografie als Fotografie.

Roland Barthes befaßt sich mit der Fotografie als „spectator“ (Betrachter) nicht als „operator“ (Fotograf). Betrachtenswert sind für ihn nur Fotografien, die ihn beseelen, weil sie dem „Prinzip des Abenteuers“ folgen.4 Diese Wirkung kann nur abgelöst von einem Referenten, dem abgebildeten Objekt, in den Blick geraten. Dabei handelt es sich nicht um ein magisches Denken, daß die Wirkung eines Bildes mit der Belebung bzw. Beseelung des Bildes erklärt. Vielmehr erfährt sich der Betrachter als beseelt, man könnte auch sagen, daß er sich selbst als lebendig wahrnimmt, sich als Lebendigen wiederfindet, indem er eine durch das Foto vorstrukturierte offene Bild-Antwort-Relation aktualisiert.

Das menschliche Interesse an der Bestätigung des Lebendigen,5 bleibt immer einer ambivalenten Wirkung ausgesetzt, denn die Mittel, die die Lebendigkeit rekonstituieren helfen sollen, sind gleichzeitig beredte Aussagen über das, was sie überwinden sollen, den Tod. Vielleicht hätten Reusses Thermografien Barthes in ein Abenteuer gestürzt, das die Realität in einem Bereich der Sensibilität entfaltet, die die Welt der Gegenstände und die sinnliche Wahrnehmung hinter sich läßt. Reusses fotografischer Blick lebt in einer Ambivalenz, die das Reale/Alltägliche und Metaphysische der Fotografie als Dopplung seiner eigenen existentiellen Zerrissenheit inszeniert. Die Inszenierung der „Cold Boxes“, das Entwickeln von Bildern mit eigener Körperflüssigkeit (Urin) wie z.B. die den Harnzyklus zu ihrem Erscheinen verwendenden „Sumpfblüten/Pissflowers“ (1985/96), eine gemeinsame Arbeit mit Harry Kramer, und die in Kollaboration entstandenen Künstlerportraits, sind geeignet, die Fährte des Betrachters zunächst von metaphysischen Konnotationen im Sinne von Roland Barthes6 abzulenken. Es ist keineswegs vordergründig, Form und Inhalt einer künstlerischen Arbeit möglichst weitgehend anzunähern, damit das Bild die Offenheit erlangt, die im Betrachter als Metaphysik inmitten seiner Welt zu arbeiten anfängt. Der Bildwerdungsprozeß, auf den sich Reusse einläßt, ist abhängig vom Durchlässigwerden seines Gehirns für Bildkonzepte und der Dienstbarmachung der Chemie seines Körpers zur chemischen Entwicklung seiner Fotografien. Schließlich können die „Sumpfblüten“ den Betrachter in ein von Freude begleitetes Nachdenken über die Verwendung einer mit Tabu belegten Körperflüssigkeit zur Herstellung einer sich häutenden und sich selbst zum Verschwinden bringenden Schönheit einlassen.

Neue Künstlerportraits wie z.B. von Rob Scholte, Harry Kramer, Pedro Cabrita Reis, Jimmie Durham, Jürgen Klauke, Rosemarie Trockel und Rune Mields zeigen, daß die Stillegung/Einfrierung eines lebendigen Menschen in einem fotografierten Portrait nicht unbedingt Bilder erzeugen müssen, die nicht kommunizieren, weil sie eine Persönlichkeit inszenieren. Neben dem kollaborativen Aspekt relativiert auch die erzählerische Aufbereitung der Portraits das absolutistische Zerren der Kamera/des Fotografen an den Personen. Reusse zielt auf eine „reduzierte Erzählung, die glaubhaft ist“, und die mit vorhandenen einfachen Mitteln aus dem direkten Umfeld der fotografierten Personen „eine gewisse Selbstverständlichkeit der Inszenierung“7 möglich macht.

Reusse zieht die Selbstverständlichkeit nicht aus der Understatement-Attitüde des Trashfotos, das derzeit en vogue ist, oder aus dem „Verschwinden der Subjektivität des Sehens in einer technisierten Umwelt“ durch „die Verabschiedung von dem Mann hinter der Kamera“8 , sondern sie kann nur die seinem Gehirn mögliche Selbstverständlichkeit sein. Seine Arbeiten teilen unmißverständlich mit, daß er im Gegenüber zum Betrachter die Zeit als Ariadnefaden nutzt, der in das „Labyrinth der Fotografie“9 führt.

Marietta Franke,  Juli 1996

 

  • vgl. Roland [1]Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Fotografie (1980).; Frankfurt (Suhrkamp) 1985. Barthes unterscheidet „studium“ und „punctum“ als Elemente der Fotografie. S.50: „Das Studium bringt einen weitverbreiteten Typ von Fotografie hervor, den man die einförmige Fotografie nennen könnte.“ (z.B. Reportagefotos, pornographische Fotos) S.60: „Das Studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht.“ S.28: „Das punctum bringt das studium aus dem Gleichgewicht.“ S.36: „Das punctum einer Fotografie das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht.“ S.62: „Dem punctum kommt man erst nach einer gewissen Latenzzeit auf die Spur.“
  • Christoph Blase: Das Verschwinden der imaginären Skulptur im kalten Blau, in: Kat. Dem Herkules zu Füßen; Kassel 1989, S.38.
  • Klaus Honnef: Realität als Fiktion. Fiktion als Realität, in: Kunstforum International, Band 84, S.162.
  • vgl. Barthes, ebd., S.82. Barthes erlebte beim Betrachten eines Kinderfotos seiner kurz zuvor verstorbenen Mutter, wie sich seine Singularität ins Allgemeine wandte. Nur vermittels dieses Fotos konnte er sich sie als ganze Person vergegenwärtigen.
  • vgl. David Freedberg: The power of images. Studies in the History and Theory of Response; Chicago-London 1989, S.1-26, 192-245.
  • vgl. Barthes, ebd., S.95: „Jede Fotografie hat mich als Bezugspunkt und eben dadurch bringt sie mich zum Staunen, daß sie die fundamentale Frage an mich richtet: warum lebe ich hier und jetzt?“
  • Gespräch mit Stephan Reusse am 19.7.1996.
  • Paul Virillo: Die versteckte Kamera, in: ders., Die Sehmaschine; Berlin (Merve), 1989, S.111.
  • Barthes, ebd., S.83.
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