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Marietta Franke

Stephan Reusse – Der fremde Blick des Wolfes

 

„So schließt das Leben eines Menschen, dessen Existenz der unseren um ein weniges vorausgegangen ist, in seiner Besonderheit gerade die Spannung der Geschichte, ihre Abspaltung mit ein.“ (Roland Barthes, Die helle Kammer, Bemerkung zur Photographie, S. 75)

Stephan Reusses fotografische Bilder warten still auf einen Betrachter, der gelernt hat, sich mit einer vorübergehenden Verunsicherung seines Blickes zufriedenzugeben, während er im Geheimen immer noch darauf wartet, dass sich sein Blick eines Tages doch einmal, wenn auch nur für einen Augenblick, aus der alltäglichen Verwunschenheit lösen und in eine fremde Welt schauen könnte.

Reusse beherrscht die professionellen Kriterien der Präsentation einer künstlerischen Fotografie, die sich am besten in großen Räumen aufgehoben sieht. Seine künstlerischen Gedanken brauchen allerdings weitere Entfernungen, bevor sie zum Bild werden und wieder zurückkehren. Reusse findet seine Bilder zum Beispiel auf  Reisen, die er in andere Länder und andere Kontinente unternimmt, um seinen Blick und seine Gedanken in Bewegung zu halten, und in experimentellen, technischen und elektronischen Abläufen, die Form und Inhalt seiner Bilder zu einem intensiven Wahrnehmungsgewebe verdichten.

Den mit Harnsäure hervorgearbeiteten Pissflowers (1996) haftet der Geruch der früheren Hervormalungen von Fotografien an, die Reusse in der ersten Hälfte der 1980er Jahre an der Berührungslinie von Fotografie und experimenteller Malerei vor Publikum inszeniert hat (dokumentiert in: Stephan Reusse, Exposed, Process, Künstlerportraits; Kassel 1986). Die im vorigen Jahr erstmals ausgestellten Rothko-Arbeiten (siehe Kat. Stephan Reusse, Leaving Shadows, Thermographs 1982-2002, 2002, S.6-23) berühren ein weiteres Mal die Entgrenzungsmöglichkeiten der Malerei in der Ungegenständlichkeit, um sie gleichzeitig als in Orangefarbigkeit getauchte Versionen seiner früheren cold boxes mit der Erinnerung an die industriell gefertigte Ästhetik minimalistischer Objekte zu überblenden. Der kunstgeschichtliche Kontext wird wählbar. Reusse schiebt seine Arbeiten kritisch und zugleich lachend in den Kontext der Kunst nach 1960. Seine Arbeiten sind damit unabhängig von der in den 1980er Jahren wiederbelebten Diskussion um den künstlerischen Wert von Fotografien und dem mit ihr produzierten Restavantgardismus, der jeder sinnlich wahrnehmbaren Form anhaftet, solange sie als künstlerische Fom in Frage gestellt wird.

Die besondere Bildqualität der Arbeiten Reusses erschließt sich für den Betrachter, wenn er in die Stille der unsentimental gebrochenen Wahrnehmungs- und Denkstrukturen eintritt, die Reusse in der Schönheit der Vergänglichkeit des Lebendigen findet – jenseits von Gewohnheiten und Vorurteilen. Reusse kennt das Verlangen nach einem „genauen Bild“, das Roland Barthes  in seiner „Bemerkung zur Photographie“ beschreibt: „Doch mein Kummer verlangte nach einem genauen Bild, das zugleich Gerechtigkeit und Genauigkeit sein sollte; ein Bild nur, doch ein richtiges Bild.“ (Roland Barthes, ebd., S. 78f.).

Barthes analytische Betrachtungen der Photographie lassen die Konkurrenzgeschichte von Fotografie und Malerei hinter sich, um die (absolute) Subjektivität der Fotografie zu berühren, die sich der Wiederholung kultureller Codes in einer nicht ortbaren Wirkung (vgl. ebd., S. 60f.) entzieht – mit dem Beigeschmack des Unheimlichen, „der jeder Photographie eigen ist: die Wiederkehr des Toten.“ (Roland Barthes, ebd., S. 17).

Reusse gibt dem Gedanken des „genauen Bildes“ in jeder Arbeit seine Fremdartigkeit zurück, als sähe er alles (immer) zum ersten Mal. Die Heterogenität seiner Bilder verhindert, dass der Betrachter sich allzu heimisch in seiner Arbeit fühlen könnte. Seine Infrarotaufnahmen von Wölfen spielen eine Schlüsselrolle in der bildlichen Verdichtung einer selbstgewählten Fremdheit. Reusses Wolfsbilder ziehen aus der Fremdheit und Gefährlichkeit der Tiere nicht das Negative, sondern sie beobachten sie mit einem forschenden und einem fragenden Auge als Lebewesen, die derweil in der Vielfalt der Welt ihre Zeit verleben. Die Wölfe erscheinen zart und verletzbar, nicht reißend. Siegfried Zielinski schreibt über die Wolfsbilder: „Reusses Bilder verleihen ihm etwas, was er in Wirklichkeit nie hatte. Im gedehnten künstlerischen Augenblick genießt er eine zärtlich Zuwendung.“ (Siegfried Zielinski, Wolfsbilder, in: Kat. Stephan Reusse, Leaving Shadows, ebd. o.S.)

Die Wolfsbilder sind im Barthes’schen Sinne so genau, als schenkten sie dem Wolf in einem fremden Blick eine von Vorurteilen befreite Existenz. In den neuen Arbeiten, die in Abwesenheit des Künstlers von einer laufenden Kamera aufgezeichnet worden sind, zeigt sich der Wolf als blickendes Tier, das mit leuchtenden Augen aus der Nacht in die Welt des Betrachters sieht. Die Abwesenheit des Künstlers in der Zeit der Bildaufzeichnung erscheint als Konsequenz der Anerkennung der Fremdheit des Tieres, wobei der Blick des Wolfes nicht dem Künstler, sondern dem Auge der Kamera zu antworten scheint. Die Fremdheit scheint perfekt zu sein.

Marietta Franke, Bonn 2003

 

 

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