Mind and Memory
Stephan Reusse und Philipp Goldbach
Teil 1: Stephan Reusse
Der Spurensucher
Etwas Unsichtbares sichtbar zu machen, ist das nicht die Aufgabe der Kunst und vor allem der visuellen Medien, wie der Malerei und der Fotografie? Auch die Wissenschaft entwickelt Techniken – seien es optische oder digitale – um noch genauer auf die Realität zu schauen. So eröffnet etwa die Wärmebildkamera der medizinischen Diagnostik die Möglichkeit, Kehlkopfkarzinome zu lokalisieren. 1981 entdeckte Stephan Reusse im Kontakt mit einem befreundeten Arzt die Möglichkeiten der Wärmebildkamera.
Bei seinem Besuch auf einer Krankenstation zeigte ihm der Mediziner eine solche Kamera und verließ kurz den Raum mit der Bemerkung, er dürfe nichts daran verstellen. „Er hätte mich nicht allein lassen dürfen“, erinnert sich Reusse schmunzelnd. Denn sofort untersuchte er die Apparatur und entdeckte zufällig einen Schatten an der Wand. Offenbar hatte dort nur kurze Zeit zuvor jemand gestanden, wie der Wärmeschatten bewies. Seither lässt dieses Phänomen der abwesenden Anwesenheit den Künstler nicht mehr los
Die Wärme hinter dem Bild
Reusse verfügt über ein breites Œuvre als multimedialer Künstler, mit Präsentationen in einigen der bedeutendsten Museen der Welt. Die Erforschung des Wärmebilds stellt darin nur eine Werklinie unter anderen dar, diese zieht sich jedoch seit Jahrzehnten durch sein Schaffen. In Kanada beobachtete er das Verhalten von Wölfen und experimentierte mit der visuellen Darstellung von Eis.
In einer Welt der Überlagerungen von echter und unechter Kommunikation, werden Stephan Reusses Arbeiten ständig kostbarer, weil sie nicht nur die Geschichte der technischen Veränderungen in der fotografischen Bildentstehung in sich tragen, sondern darüberhinaus auf weit verzweigten experimentellen und kommunikativen Erfahrungen beruhen, die in die künstlerische Fotografie eine offene und menschliche Atmosphäre hineintragen. Die Leichtigkeit und Bescheidenheit des Titels seiner jüngsten Ausstellung in Wien geht mit einem Schmunzeln an den mehr als 30 Jahren vorbei, in denen er ein künstlerisches Werk entwickelt hat, das von dem Interesse an der inhaltlichen Auswertung der Fotografie und an der Begegnung mit anderen Menschen, vor allem auch mit anderen Künstlerinnen und Künstlern, getragen wird.
Reusse versteht sich als Spurensucher. So bemerkte er, dass sich hinter einem abgehängten Bild Wärme verbirgt, die von der Kamera dokumentiert werden kann. Das farbliche Spektrum mit dem diese Energie erfasst wird, reicht vom kalten Violett bis zum glühenden Orange, „zwei Farben, die heftig miteinander kämpfen“, wie er sagt.
In diesen Arbeiten wird der Wechsel von der Fotografie zur Malerei zum Sujet. Die Farben lösen sich von jeder gegenständlichen Darstellung ab, verschmelzen im Übergang ihres Leuchtspektrums und werden zur Fläche. Stephan Reusse stellt vor die Seriennummern seiner thermografischen Aufnahmen den Namen „Rothko.0“. Die visuelle Verwandtschaft zum Werk des Amerikaners Mark Rothko ist nicht zu übersehen. Auch bei ihm gibt es keinen Vorder- oder Hintergrund mehr, ein Schritt ins Numinose ist getan.
Und trotzdem sind hier Spuren der Wärme und des Lebens erfasst, wenn diese auch dem Auge nicht sichtbar sind. Reusse führt uns in einen Bereich, in dem Bildträger und Gestalt aufgelöst sind und dennoch etwas existiert, das wir nicht benennen können. Nah an der Transzendenz und doch nicht transzendent, denn Reusse betont, dass jedes seiner Projekte vom Realen ausgeht.
Die Aura
Im Digitalen spürt er das Analoge auf. Deutlich wird das in seinen „Chairs“. einer Serie mit Stuhlbildern. Auf den Stühlen finden sich wolkige Lichtschatten, die die Restwärme dokumentieren, die jene Person hinterlassen hat, die eben noch auf dem Stuhl saß. Das Abwesende ist noch in Spuren anwesend. Reusse thematisiert das Verschwinden der menschlichen Physis und weist auf den Tod als zentrales Thema der menschlichen Existenz. Was er fotografiert, ist nicht nur ein Stuhl, sondern ein Umfeld, in dem Kommunikation mit einem Gegenstand stattgefunden hat, der aus seiner stummen Realität herausgelöst wurde. Das Dazwischen ist die Wärme, wie die Farbe, ein Träger von etwas Lebendigem. Es wird etwas sichtbar, keine Idee, sondern eine Anwesenheit.
Den oftmals nur ahnungsvoll verwendeten Begriff der Aura rückt Stephan Reusse konkret in den Blick. Das, was Walter Benjamin in seinem Briefwechsel mit Theodor W. Adorno als „Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“, bezeichnete, erscheint im digitalen Bild. Adorno definierte In seiner Antwort die Aura als „die Spur des vergessenen Menschlichen an einem Ding“. Stephan Reusse zeigt keinen Stuhl, sondern die vergangene Gegenwart eines Menschen. Auch wenn uns die Person kein Gegenüber mehr ist, so existiert doch ihre Wärme noch im Raum. Verhält es sich mit der Erinnerung nicht ebenso, die in den Menschen noch lebt, wenn der Verstorbene schon nicht mehr ist?
Thonetchairs 2004 – 2006
Die Uhr zurückdrehen
Das verlorene Objekt, das wiedergefunden werden muss, setzt die Erinnerung in Gang. Zeichnend ist Stephan Reusse zur Kunst gekommen. Mit dem Zeichenstift ertasten wir die gegenständliche Welt, nehmen sie in ihrer Beschaffenheit visuell wahr. Dabei wird die Linie zum Movens der Gestaltung, und zu ihr kehrt Reusse mit seinen Laserinstallationen auch wieder zurück. Die Bewegung steht hier im Fokus seiner Spurensuche. In kurzen Takes nimmt er Menschen auf, die er zuvor für eine Kollaboration hat gewinnen können. Ihr kann eine spontane Begegnung auf der Straße vorausgegangen sein, aber es sind auch Profis wie der Tänzer Dominique Mercy, der lange Zeit dem Ensemble des Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch angehörte, die bereit sind, ihm ihren Bewegungshabitus zu zeigen.
In den Laseranimationen sieht man die Körper nur in einer Umrisslinie, so entsteht der Eindruck eines geschmeidigen Bewegungsflusses. Zwar bleiben die Personen anonym, aber die Eigenart ihrer Körperbewegungen unterscheidet sie. Denn unsere Bewegungen enthalten Informationen über unseren kulturellen Habitus, der sich in den Körper einschreibt, ohne dass wir uns dessen bewusst wären.
Mitunter gewinnen die Laseranimationen die Relevanz politischer Metaphern. Wenn etwa ein Mann immer im Kreis gegen den Uhrzeigersinn läuft. Er wird nicht nur zu einer Gestalt, die stets um sich selbst kreist, sondern symbolisiert auch eine Flucht aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Ein Phänomen unserer Tage, das seine Realität in zahlreichen internationalen Konflikten findet, in denen der Blick nicht auf die Zukunft gerichtet ist, sondern Vergangenheit „bereinigt“ werden soll. Russlands Versuch mit kriegerischen Mitteln Territorien der ehemaligen Sowjetunion zurückzugewinnen oder die politischen Spannungen in der Straße von Taiwan mögen dafür nur zwei Beispiele sein. Die Illusion, den Gegebenheiten der Gegenwart den Rücken kehren zu können, um sich in eine idealisierte Vergangenheit zu begeben, treffen wir auch in den rechten Identitätsbewegungen Europas an. Mit einer Figur, die im Loop wieder und wieder alle Argumente zornig aus dem Feld schlägt, zeigt uns Stephan Reusse pointiert die Absurdität einer rückwärtsgewandten Bewegung, die zum Menetekel unserer Gegenwart werden kann.
Thomas Linden, Köln Nov.2024