Siegfried Zielinski
Wolfsbilder
Das Auge musste einen hohen Preis dafür bezahlen, dass es im Prozess der Zivilisation an die Spitze der Hierarchie aller Sinnesorgane gehievt wurde. Es wurde zum Organ distanzierter Wahrnehmung degradiert, zum visuellen Apparat. Bevor das vor gut 2000 Jahren begann, hatte man das Sehen vor allem als ein tastendes Vergnügen begriffen, gleichberechtigt mit dem Hören, dem Riechen, dem Schmecken und dem Tasten. Was man sah, litt nicht, sondern war eine Sensation für den, der blickte und umgekehrt: Wer oder was erblickt wurde, öffnete sich in Zuneigung zum Blickenden. Nichtsichtbarkeit oder Nichthörbarkeit bedeuteten Abneigung. Kommunikation funktionierte in diesem Fall nicht.
Die „Thermovisionen“ Stephan Reusses arbeiten mit avancierter Medientechnik. Aber sie erzählen auch von dieser seltsamen Attraktion aus jenen Zeiten, als man begann, systematisch über Wahrnehmung nachzudenken. Dem Auge wird über einen medialen Übersetzungsprozess zugänglich gemacht, was normalerweise der Haut, dem Spüren, dem Tasten privilegiert vorbehalten ist wahrzunehmen, die Empfindung von Temperatur, von Hitze und Kälte. Nur so kann ein Körper in Abwesenheit sichtbar werden. Seine Form hinterlässt keinen Abdruck im leeren Raum, seine Hautfarbe schreibt keine Spuren in ihn ein, der Raum vergisst sofort, ob ein Körper schön oder hässlich ist. Aber er merkt sich für eine Weile, wenn etwas in ihn hineingeraten ist, das eine andere Temperatur hat als er selbst. Der Thermograf ist ein besonderer Differenzschreiber. Aber erst durch die Transformation im fotografischen Bild wird aus den sichtbar gemachten Daten, die der Sensor registriert, erneut eine Sensation. Die kühle naturwissenschaftliche Struktur wird mit ästhetischen Mitteln poetisiert.
Der Wolf wurde von den Alten als ein „fressender Schaden“ aufgefasst. Die Spur, die er für die Bauern hinterließ, war in ihren Augen blutig, seine Anwesenheit bedeutete Gefahr und Bedrohung. Er war ein gehasstes Tier, das aus der Kälte kam und in die Kälte zurückwich. Der Wolf repräsentierte das Fremde, das Andere, das Auszugrenzende, das zu Vernichtende. Reusses Bilder verleihen ihm etwas, was er in Wirklichkeit nie hatte. Im gedehnten künstlerischen Augenblick genießt er eine zärtliche Zuwendung. Erst, wenn das Objekt der Feindschaft im Realen nahezu eliminiert ist, vermag es für die Leute Faszination zu entfalten, Achtung und Wärme zu erheischen: im Status des Bildes.
Siegfried Zielinski, Köln 2003